Nachgeordnete Situationen
Der Titel der vier ausgewählten Arbeiten klingt beiläufig,
fast ein wenig lakonisch: „Situationen A bis D“. Dabei
stehen die großformatigen Leinwandbilder am Ende
einer intensiven Auseinandersetzung Roland Dörflers
mit dem Thema der Kreuzigung. Sie begann 1978 mit einem
Wettbewerb für ein Altarbild in der Schlosskapelle
in Gifhorn und fand ihren ersten Höhepunkt in dem
„Triptychon 85“ von 1985. Roland Dörfler betont in
dem Werk – ganz in der Tradition der Pathosform dieser
Bildgattung – die Mitteltafel, allerdings ohne sie
durch ihre Größe herauszuheben. Er zeigt den Gekreuzigten
kopfüber zwischen zwei riesigen Steinblöcken
und ordnet der inhaltlich begründeten Mittelachse die
beiden anderen Tafeln mit den Schächern zu. In „Situationen
A bis D“ von 1994 erweitert Roland Dörfler das
Motiv der Mitteltafel aus „Triptychon 85“ um eine weitere
Figur. Aber indem der Künstler den Bildtyp des
Triptychons und damit den unmittelbaren Hinweis auf
den Gekreuzigten aufgeben hat und das Bild des geschundenen,
leidenden Menschen in einzelnen, nachgeordneten
Situationen variiert, werden neue Bilderfindungen
möglich. Die Farben sind heller oder auf ein
laviertes Grau reduziert, die collagierten Papiere erzeugen
sich überlagernde Raumschichten, die Figuren sind
zwar deutlich erkennbar, verbinden sich aber stärker mit
den Steinblöcken. Mit diesen vier „Situationen“ hat Roland
Dörfler das Thema des Gefolterten, Leidenden und
Sterbenden zu einem Thema von heute gemacht. Jeden
Augenblick und überall auf der Welt werden Menschen
gefoltert, erniedrigt und ihrer Würde beraubt. Mit diesen
vier Tafeln hat Roland Dörfler die Grenzen der christlichen
Ikonografie und Bildform verlassen und das Bild
zum programmatischen Gleichnis für den Opfertod der
Schwächeren gemacht.
„Der Sturz des Ikarus“ ist in der europäischen Bildgeschichte
in der Regel als Metapher für den Übermut, Ungehorsam
und die Respektlosigkeit gegenüber bestehenden
Regeln und Verboten dargestellt worden. „Land -
schaft mit dem Tod des Ikarus“ von (möglicherweise)
Pieter Bruegel d. Ä. um 1555 – 1568 in den Königlichen
Museen der Schönen Künste in Brüssel liefert für diese
Rezeption das oft zitierte Beispiel. Der auf Kreta gefangen
gehaltene Dädalus erfand und baute für sich und seinen
Sohn Flügel, um von der Insel zu fliehen. Dabei beschwor
der Vater den Sohn, bei ihrem Flug weder der
Sonne noch dem Wasser allzu nahe zu kommen, da sich
in der Sonne die mit Wachs befestigten Federn lösen und
in der Nähe des Wassers dieselben feucht werden würden.
Der übermütige Sohn, der stolz war und froh, dass sie die
Hälfte der Strecke schon geschafft hatten, stieg dann
doch höher und höher, das Wachs an seinen Flügeln
schmolz, und er stürzte ins Meer. Das Bild von Roland
Dörfler von 1995 trägt den Titel „Ikarus steigt“, zeigt aber
eine stürzende Figur vor einer dunklen Sonne (oder sind
es die Flügel des Ikarus?). 1989 hatte Wolfgang Mattheuer
in dem Linolschnitt „Ikarus erhebt sich“ aus der
Mappe „Suite“ das Volk, das sich erhebt und den Mauerfall
erzwingt, thematisiert. Roland Dörfler fasst das
Thema – ausgehend vom überlieferten Mythos – allgemeiner
und interpretiert den jugendlichen Übermut des
Ikarus als Neugier und Herausforderung der Götter.
Diesen Versuch bezahlt er mit dem Leben, das Bild zeigt
ihn stürzend – zurück aber bleibt die Erinnerung an den
Wagemut und die Selbstgewissheit der Jugend – wenn
man zum Bild den Titel hinzu nimmt.
Auch in den beiden Arbeiten „Aufatmen“ und „Über
die gelbe Mauer“ sehen wir stürzende Körper, so wie sie
Roland Dörfler in diesen Jahren für ganz unterschiedliche
Bildthemen verwendet: Körper mit angelegten Armen
und dadurch hilflos, kahlköpfig. Ignoriert man hier
einmal die jeweiligen Bildtitel und interpretiert die Werke
mit Hilfe des farbigen und formalen Repertoires, dann
ergeben sich wechselnde Inhalte, dann halten die massiven
Blöcke die Figur, dann wälzt sich ein Verlorener aus
dem Dunkel über die gelbe Mauer ans Licht.
Michael Schwarz
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Roland Dörfler
* 1926 in Silberbach, lebte und arbeitete in Braunschweig,
gestorben 2010 in Braunschweig