Salon Salder


Zwischen Traum und Realität

Die Skulpturen von Michael Nitsche scheinen direkt von Bord des Narrenschiffes, nach dem Vorbild des erfolgreichsten deutschsprachigen Roman der Reformation von Sebastian Brant, entstiegen zu sein. In Brants Moralsatire aus dem Jahr 1494 reisen 100 Narren auf einem Schiff gen Narragonien. Brant nimmt seine Leser mit und hält ihnen durch die unterhaltsame Schilderung ihrer Laster kritisch einen Spiegel vor. Passagiere eines eigenen Narrenschiffes sind die Mischwesen, die Michael Nitsche schafft, mit Namen „Charlie Big Potatoe“, „der Räuber und der Prinz“, „Ellechino“ oder „die, die an der Grenze leben“. Es sind alles Geschöpfe, die in einer Zwischenzone agieren - gefangen zwischen Traum und Realität. Als Reisende auf dem Narrenschiff oder wie ihr Name schon sagt: die, die an der Grenze leben, leben sie im Niemandsland.

Nitsche setzt uns seine eigenartigen Wesen vor und spielt dabei mit unseren Sehgewohnheiten. Wir sehen offensichtliches: Tierköpfe oder -körper, die wir wieder erkennen. Erst beim zweiten Blick, beim genauen Hinsehen, erkennen wir die Transformation der faszinierenden Kreaturen oder Wesen, die Nitsche aus ausrangierten Kuscheltieren, Pelzen, Stoffen, Muscheln und Perlen geschaffen hat. Michael Nitsche ist schöpferisch tätig. Aus Zerstörtem modelliert, formt und schafft er etwas Neues. Alt bekanntes wird in seinen Kreaturen zu neuem Leben erweckt. Er schafft ein eigenes Volk. „Sie sind Träger eines animistischen Bewusstseins, welche einer mystischen Welt entstammen. Diese Welt liegt jenseits unseres logischen Verständnisses und unseres funktionalisierten Alltags. Sie ist ein Ort des kollektiven Unterbewusstseins, der die Erinnerungen und Geschichten aller Völker und Menschen bewahrt. Meine Arbeit dreht sich immer stärker darum, Sendboten aus dieser anderen Welt Gestalt zu verleihen.“ so Nitsche.

Seine Skulpturen sind groteske Charaktere, überspannte, phantastisch geformte Mischwesen, die in einer eigenen Welt existieren. In ihnen spiegelt sich die Unvereinbarkeit von Gegensätzen wieder, man hat Mitgefühl und empfindet Abneigung. Die Materialien aus denen sie bestehen, sind nur teilweise Träger von positiven Emotionen, erzeugen in einem selbst liebliche Assoziationen, andere Materialien wiederum verursachen nach der Neubestimmung durch Michael Nitsche eigenwillige ja sogar unheimliche Gefühle. Das Liebliche an seinen Skulpturen soll uns berühren und unsere ureigensten Gefühle wecken. Mit ihnen appelliert er an unsere Gefühle und Emotionen. Das Brutale in seiner Bildsprache appelliert an unsere Instinkte und Ängste, regt uns dazu an unsere Einstellungen gegenüber anders aussehendem neu zu überdenken – nicht nur zu funktionieren, sondern unserem Inneren zu vertrauen. Nicht vordergründiges Verhalten imaginiert Nitsche mit seinen Wesen sondern das Vertrauen auf unser Unbewusstes.

Nitsches „objet trouvé“ - Objektkunst, die Kombination aus trivialen Gegenständen und Materialien in neuen Sinnzusammenhängen als Kunstwerke haben sowohl spielerische, anarchische als auch provokante Züge. Bei Michael Nitsche reichen die Materialkombinationen von skurril über absurd-poetisch zu gruselig. Nitsches Wesen ignorieren die Grenzen der Natur, da sie fragil und ungelenk zugleich sind. Sie scheinen Eigenwilliges zu tun und sind doch empfindsam. Sie entziehen sich uns durch ihr fremdartiges Aussehen.

Nicht nur das Aussehen der Figurengruppe, die, die an der Grenze leben – sondern auch ihre Bezeichnung, schließen sie aus unserer Gemeinschaft aus, es sind Grenzgänger – Weltenwanderer. Sie sind Ausgestoßene, da sie nicht in unsere Welt, in unsere Vorstellungen, in unsere Bilder passen. Sie entsprechen nicht unseren Idealen. Katherine Anne Porter, die 1962 den Roman „Narrenschiff“ inspiriert durch das Original von 1494, veröffentlichte, sagte 1963 in einem Interview: „Das menschliche Leben selbst ist ein einziges Chaos. Jeder behauptet seinen Platz, [……]. Es sind keineswegs die anderen, die die Narren abgeben! Mangel an Verständnis und Isolierung sind die natürlichsten Lebensbedingungen des Menschen. Wir sind alle Passagiere auf diesem Schiff, doch wenn es ankommt, ist jeder alleine.“

Michael Nitsche hat für sein Narrenschiff in der diesseitigen Welt eine plastische Form gefunden: Ein jeder von uns transportiert seine archaischen Urwesen, sprich Ängste und Sehnsüchte, als blinde Passagiere an Bord seines kollektiven Unbewussten.

Stephanie Borrmann

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Michael Nitsche
* 1961 in Lüneburg, lebt und arbeitet in Braunschweig