Der Prozesskünstler
Die Philosophiegeschichte nennt sie Prozessphilosophen.
So werden Denker bezeichnet, für die das Walten
der Zeit die permanente Verwandlung aller Dinge zur
Folge hat. In diesem Sinn dürfte der erste Prozessphilosoph
der abendländischen Geschichte Heraklit von
Ephesos gewesen sein. Sein berühmt gewordener Satz
„panta rhei“ („Alles fließt“) operiert anders als die Weltund
Wirklichkeitserklärungen seiner Vorgänger mit der
Vorstellung des Primats eines ständigen Werdens und
Vergehens, nicht eines statischen Seins. Heraklit zufolge
ist die scheinbare Stabilität der Wirklichkeit trügerisch
und irreführend. Sie bildet nur die Oberfläche der Dinge
ab. Für ihn ist Stabilität in Wahrheit eine Funktion von
Bewegung, in der Gegensätze umschlagen und zugleich
ein Ganzes bilden. Aus Tag wird Nacht und wieder Tag
und so fort. Auch Aristoteles, Nietzsche, Leibniz, Hegel
und Spinoza rechnet die Philosophiegeschichte unter
die Prozessphilosophen. In Anlehnung an diese Kategorie
könnte man Rainer Splitt als Prozesskünstler bezeichnen.
Wenn er Kunstwerke schafft, ist ihnen der
Herstellungsprozess als wesentliches Element ihrer Ästhetik
stets mit eingeschrieben. Unter Heranziehung der
Unterscheidung Spinozas zwischen der „natura naturans“
und der „natura naturata“, der schaffenden und geschaffenen
Natur, lässt sich in Splitts Werken ein Doppelcharakter
ausmachen: Sie sind Artefakte, die in ihrer
Ontologie den künstlerischen Fertigungsprozess, dem
sie sich verdanken, mit abbilden.
Bewegungsprozesse haben vielleicht keine seiner Werkserien
so markant geprägt wie die der „Getauchten Tafeln“.
Sie verdanken ihre Existenz, darin dem Gesamtwerk des
Künstlers ähnlich, einfachen und lakonischen Gesten.
Sie werden, wie es der Titel deutlich macht, von Rainer
Splitt in Farbe getaucht und danach wieder herausgezogen.
Im Frühwerk bestehen die Tafeln aus strapazierfähigem
Kunststoff, und sind dazu gedacht, vom Erwerber
– jedenfalls zeitweise – an ihren zwei Griffen herumgetragen
zu werden. Spätere Werke sind aus Aluminium
und dazu bestimmt, eine eher immobile Existenz zu führen.
Im Akt des Herumtragens wird stärker noch als
beim reinen Ausstellen der Tauchtafeln ein weiterer Doppelcharakter
dieser Werke deutlich: Sie sind sowohl Malerei
als auch Plastik – letzteres als „Handlungsform“. Mit
diesem Begriff hat man Ende der 1970er Jahre auf den
erweiterten Charakter der zeitgenössischen Plastik reagiert.
Durch das Herumtragen werden die Tauchtafeln
zum Handlungsrequisit und zum Medium der Kommunikation.
Dabei wirken ihre glänzenden Farboberflächen
wie Spiegel, welche die Wirklichkeit immer neu und anders
reflektieren. Das ist auch bei den ‘Farbgüssen’ so, bei
denen der ruhige und bedachte Gestus des Ausgießens
der Farbe durch den Künstler auf den Boden ihre Ontologie
ebenso prägt wie die Architektur des Raums. Hybride
auch sie, die ihre Entstehung dem Kalkül nicht weniger
verdanken als dem Zufall.
Die „Paperpools“, die Rainer Splitt im Salon Salder zeigt,
haben sich aus seinen ‘Gussboxen’ entwickelt. Auch hier
folgt der Fluss der Farbe einem präzisen Dispositiv, das
gleichwohl Raum für ungeplante, selbst bestimmte Bewegungen
lässt. Kalkuliert sind die Farbmenge, die der
Künstler einfüllt, und ihre Ausgießung über Eck. Hat
Rainer Splitt bei weißem Hintergrund früher nur mit einer
Farbe operiert, sind es in den neueren Werken häufig
mehrere sich überlagernde Farben, was zu emotionalen
Erregungsschüben führt, welche die monochromen
Exponate so nicht kennen. In weiteren Arbeiten werden
Schwarz und Weiß zu Agenten von Farbauslöschung
und Überlagerung und damit von Stille und Schweigen.
Die Gussboxen sind von ihrer materialen Faktur her klar
dreidimensionale Werke und daher Plastiken, während
der Status der „Paperpools“ eher zweideutig bleibt. Vor
dem Einfüllen der Farbe hat Rainer Splitt sie so gefaltet,
dass sie Kartons bildeten. Nach dem Ausgießen und
Trocknen der Farbe hat der Künstler die Papiere wieder
glatt gestrichen. Sie tragen zwar noch reliefartig ihre
Knicke und Faltungen, nähern sich in dieser Form aber
stark der Ontologie des Bildes und der Malerei an.
Schauen wir auf die Ambivalenzen, die nicht nur sie, sondern
das ganze Werk von Rainer Splitt in vielfacher
Weise prägen, wird klar, dass sie sich nicht im l’art pour
l’art erschöpfen. Die serielle Faktur der „Paperpools“ ist
auf Vergleichbarkeit hin angelegt. Dabei scheinen in den
unterschiedlichen Farb- und Formprozessen wechselnde
Charaktere und Identitäten auf, die immer im Werden
begriffen scheinen. Und damit von nichts Geringerem
sprechen als von uns Menschen, die wir nach einem
Wort von Ernst Bloch zwar „sind“, aber uns noch lange
nicht „haben“.
Michael Stoeber
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Rainer Splitt
geboren 1963 in Celle,
lebt und arbeitet in Berlin