Die Kraft des Mythos’
Der Mythos lebt. Ja, er erfährt in
der Kunst der Gegenwart häufig eine
Renaissance. Nicht nur als die von
Harald Szeemann beschriebene „individuelle
Mythologie“ – was, streng genommen,
ein Widerspruch in sich ist,
zielt der Mythos doch auf kollektive
Erfahrung – ,sondern auch als die
Wiederkehr antiker Mythen in der
Kunst. Dass sich die alten Erzählungen
so hartnäckig bis in die Gegenwart
hinein halten, hängt damit zusammen,
dass sich in ihnen menschliche
Erfahrung beispielhaft, bildkräftig
und sinnlich ausprägt. In seinem
Beitrag für den Salon Salder hat sich
Thomas Bartels zum einen dem Mythos
der drei Grazien zugewandt, was
bereits der Titel seines Werks deutlich
macht. Und zum anderen, mit dem
„Mann im Rad“ einer Erzählung, wie
sie uns im Mythos von Sisyphos überliefert
ist.
Thomas Bartels erschafft in seiner
Kunst häufig kinetische Objekte. Er
bringt auch die drei Grazien in Bewegung.
Eine von ihnen gleitet mit den
regelmäßigen Armbewegungen einer
Schwimmerin durch die Luft des
Ausstellungsraums. Was passt, handelt
es sich bei ihr doch um ein hybrides
Wesen. Eine Nixe, halb Mensch, halb
Fisch. Auch der Stoff ihres Körpers ist
ein zusammengesetzter. Seine, einer
Zeichnung im Raum ähnelnde Kontur
ist aus Draht geformt, die voll ausgebildeten,
kräftigen Arme dagegen
sind aus Keramik. Der ganze Körperapparat
wird durch eine einfache Mechanik
in zierliche Bewegung gebracht.
Das ist auch bei den beiden
anderen Grazien so. Die zweite steckt
mit ihrem, an eine Bootsfigur erinnernden,
arm- und beinlosen Körper
im zarten Drahtgeflecht eines
Schmet terlings. Mechanisch bewegte
Flügel tragen ihn durch die Luft.
Eine Art Fußgängerin der Luft ist
auch die dritte Grazie, halb Schwan,
halb Mensch. Mit ebenso gravitätischem
wie zielstrebigem Schritt bewegen
ihre voll ausgebildeten Beine
den aus Draht geformten Schwanenkörper
von der Stelle.
Bartels Synthetisierungen von Mensch
und Tier setzen in plastische Formen
um, was in der Sprache die Metapher
vollzieht. Auch sie bringt in ihren Bildern
unterschiedliche Wirklichkeiten
zusammen. Auch sie vergleicht den
Menschen gerne mit dem Tier, um
bestimmte Eigenschaften von ihm
deutlicher hervorzuheben. Etwa sein
dem Löwen gleichender Mut oder
seine dem Bär ähnelnde Stärke. Die
drei Grazien sind dem Mythos zufolge
Göttinnen der Anmut. Sie sind
Töchter des Zeus und treten im Gefolge
der Aphrodite auf. Der glänzende
Fisch, der reizende Schme tterling, der
majestätische Schwan, sie alle symbolisieren
unterschiedliche Formen der
Anmut, die Bartels in seinem Figurentheater
evoziert. Auch die Versetzung
der Bühne in die Luft ist
be deutungsvoll. Ähnelt doch jede gelungene
Art der Anmut stets auch
einer Überwindung der uns an die
Erde fesselnden Schwerkraft.
Diese Qualität haben die drei Grazien
zum beliebten Sujet der Kunst werden
lassen. Raffael, Cranach, Canova, um
nur sie zu nennen, haben sich des Themas
angenommen. Nicht anders geht
es mit der schillernden Figur des
Sisyphos. Er, der Vater des Odysseus,
war einer der einfallsreichsten und intelligentesten
der antiken Helden. Er
setzte sogar Thanatos, den Gott des
Todes, außer Gefecht. Er machte ihn
betrunken und legte ihm Fesseln an.
Worauf kein Mensch mehr starb, weil
er niemanden mehr ins Totenreich
holen konnte. Schließlich befreiten die
Götter Thanatos und bestraften Sisyphos.
Nun muss er, so heißt es, bis in
alle Ewigkeit in der Unterwelt einen
schweren Felsblock einen Berg hinaufwuchten.
Ist die Arbeit getan, fällt
der Stein auf göttliches Geheiß wieder
herab, und die qualvolle Arbeit
fängt aufs Neue für ihn an. Bartels inszeniert
in seinem Werk die beiden
Seiten des Sisyphos, den beispielhaften
Erfinder und den beispiellos Bestraften.
Sein „Mann im Rad“ aus
glänzendem, reflektierendem Edelstahl
hat das Rad erfunden und damit die
Menschheit vorangebracht. Und zugleich
ist er ins Rad gebannt, in dem
sich alles wiederholt und nichts vorankommt.
Ein ewiges Kreisen um
den Nullpunkt. Ein „semper idem“,
ein immer Gleiches, wie es der pessimistische
Arthur Schopenhauer als
menschliche Befindlichkeit beschrieben
hat. Nicht umsonst spiegelt sich
der Betrachter in der Oberfläche von
Thomas Bartels Werk. Trotzdem gibt
es für Sisyphos wie für den Menschen
einen Ausweg. Er besteht darin, das
Schicksal anzunehmen und so vom
Reich der Notwendigkeit ins Reich
der Freiheit überzuwechseln. Der französische
Schriftsteller und Philosoph
Albert Camus hat in dieser Weise über
Sisyphos geschrieben und behauptet,
man müsse ihn sich als glücklichen
Menschen vorstellen.
Michael Stoeber
__________________________________________________________________________
Thomas Bartels
geboren 1960 in Göttingen,
lebt und arbeitet in Braunschweig