Salon Salder


Porträts vom Menschen

Die Zeichnung, so sagt man, sei die schnellste Verbindung zwischen Hirn und Hand. Das trifft sicherlich für die Ideenskizze zu, nicht jedoch für die makellosen Zeichnungen von Astrid Brandt. Sie sind klar komponiert, stimmig in jedem Detail und genau ausgearbeitet. Sorgsam inszenieren sie Licht und Schatten. Für ihre Anfertigung braucht es Zeit. Dabei geht der Bleistift der Künstlerin mit der registrierenden Präzision einer Fotokamera zu Werke. Dennoch haben ihre Bilder eine Handschriftlichkeit, die jeden Gedanken an irgendeinen fotorealistischen Ehrgeiz hinsichtlich der Darstellung abweist. Bei allem Verismus machen sie keinen Hehl daraus, dass es ihnen um eine subjektive Auffassung der Wirklichkeit geht. Sie strömt aus jedem Strich der Bilder. Aus ihrer Textur, ihrem Duktus, ihrer Tonalität. Obwohl sie alle nur möglichen Graustufen erfassen, die zwischen den Polen Schwarz und Weiß liegen, sind diese unbunten Zeichnungen die farbigsten, die man sich denken kann. Vielleicht so, wie man das Grau in den Theatertücken von Samuel Beckett als farbiges Leuchten gerühmt hat.

Dass es der Künstlerin nicht um ein objektives Registrieren geht, sondern um eine subjektive Inszenierung machen auch die Titel der Werke deutlich. Obwohl ihre Bilder sich ausschließlich der Dingwelt zuwenden, finden sich immer wieder metaphorische und ausdeutende Titel, nicht selten auch solche die Personen nennen. „Ginger & Fred“ (2006) ist so einer, bei dem jeder Betrachter natürlich an das weltberühmte Tanzpaar Fred Astaire und Ginger Rogers denkt. Vielleicht aber auch an den schönen und bewegenden Film „Ginger e Fred“ des italienischen Regisseurs Federico Fellini aus dem Jahr 1986, in dem er seine, in vielen seiner Werke erprobten Darsteller Giulietta Masina und Marcello Mastroianni noch einmal als altes Tanzpaar vor die Kamera holte. Ihre Gegensätzlichkeit wie ihre Gleichgestimmtheit, die sie in diesem Film nicht nur im künstlerischen Tanz, sondern auch im Kunstwerk eines gelingenden Lebens zu verbinden wissen, sind herzzerreißend.

Astrid Brandt macht all das in ihrem Diptychon deutlich, dessen zwei Bilder ebenso ähnlich wie unterschiedlich sind. Sie zeigt auf ihnen zwei unterschiedliche Entrées von Einfamilienhäusern. Das eine ist großzügig, glamourös und elegant, das andere eher bieder, muskulös und solide. Sie stehen für Ginger und Fred und repräsentieren sie wie auch die unterschiedlichen Textilien in den jeweiligen Garderoben. Die Künstlerin bedient sich bei ihren Zeichnungen einer rhetorischen Figur, die wir als Metonymie kennen. Dabei werden die Häuser und Kleider zu Porträts ihrer abwesenden Bewohner.

Eine ganz ähnliche Aufgabe übernehmen die im Format vergrößerten Dinge in ihrer Werkserie der „Büropartikel“ (2011). Dort zeigt Astrid Brandt in einer Zeichnung, die wie immer akribisch ausgeführt ist, vor dem Rücken eines liegenden Aktenordners eine eingetrocknete Tintenpatrone, eine einsame Kugelschrei - berkappe und einen verdrehten Hefter. Eine Art Stillleben. Ganz wörtlich so, denn die Dinge in diesem Bild sind still gestellt und ohne Leben. Es trägt den bezeichnenden Titel „Limbo“ (2011), was in christlichem Verständnis wie auch in der Vorstellung Dantes in seiner „Göttlichen Komödie“ eine Art Vorhölle für die unerlösten Seelen ist. Bei Dante ist es der angemessene Ort für alle, die in ihrem Leben ohne Glauben waren und sich nur von reinem Zweckdenken leiten ließen. „Limbo“ gibt den Ton vor für alle „Büropartikel“.

Ganz ähnlich in Stimmung und Anmutung sind in „Display“ (2011) die dem Blick des Betrachters zugewandten Rücken zweier aufrecht stehender Aktenordner, davor ein an- gebrochenes Streichholzheftchen und ein offenes Pappkästchen mit Deckel. Oder das Ensemble von Aktenordner und Tesafilmrolle, weißem Einkaufswagenchip und Karteikartenkasten in „Compilation“ (2011). Sie alle stehen in ihrer puristischen und völlig makellosen, ebenso unbenutzten wie zugleich abgelebten Faktur für eine bürokratische Welt.

Auch hier vertreten die Dinge ihre abwesenden Benutzer und sind deren Statthalter. Schaut man auf sie, fällt einem wahlweise Herman Melvilles Kanzleidiener „Bartleby“ ein, mit seinem berühmten Verweigerungssatz „I would prefer not to.“ oder Franz Kafkas „Prozess“ mit seinen unheimlichen und undurchschaubaren Urteilen oder der französische Philosoph Jean Paul Sartre, für den die Mitmenschen schon im Normalzustand die Hölle waren („L’enfer, c’est les autres“), um wie viel mehr erst im Räderwerk einer bürokratisch organisierten Verwaltung.

Michael Stoeber

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Astrid Brandt
geboren 1963 in Bremen,
lebt und arbeitet in Wilhelmshaven und Braunschweig