Über Leere und Fülle
Zwei weiße Sockel stehen einander
gegenüber wie zwei feindliche Brüder.
Oder wie zwei Ufer, zwischen denen
ein imaginärer Fluss rauscht. Auf den
Sockeln liegt jeweils ein den Maßen
ihrer Oberfläche angepasster, weißer
Bilderrahmen auf. Sein Glas ist zersplittert.
Und aus den Scherben erhebt
sich rechts wie links ein grünes
pflanzenartiges Gebilde, als wolle es
sich davon machen. Als habe es satt,
noch länger angestarrt zu werden. Als
wolle es nicht mehr Bildmotiv sein.
Nicht mehr Objekt des Studiums
oder der Verehrung der Besucher, oder
beides, sondern Subjekt seines eigenen
Geschicks. In ihrer Installation verkehrt
Ina Raschke in so eindringlicher
wie surrealer Weise die Verhältnisse,
die uns üblicherweise in einem Museum
erwarten. Wenn die Dinge hinter
Glas erzählen, dann als Stell vertreter.
In Raschkes Version werden sie
zu Protagonisten ihrer eigenen Geschichte.
Dabei operiert die Künstlerin in zweifacher
Weise mit einer hübschen Mimikry.
Die Bildrahmen in dem Werk
mit dem sprechenden Titel „Flucht
#2“ (2010) gemahnen an Malerei, aber
das pflanzenartige Motiv, das sich aus
ihnen erhebt, hat dreidimensionale
Züge angenommen. In dem Augenblick,
als es zu eigener Aktivität erwacht,
wird es zugleich körperlich. Ina
Raschkes Installation oszilliert damit
zwischen Skulptur und Malerei und
nimmt im Sinne von Donald Judd die
Züge eines specific object an. Die Uneindeutigkeit
des Genres setzt sich
fort im schillernden Status der Objekte
selbst. Es scheint sich bei ihnen
in augentäuschender Manier um veritable
Pflanzen zu handeln. Bei näherer
Untersuchung wird indes deutlich,
dass sie aus eingefärbtem Papier geformt
sind. Zusätzlich zur Dialektik
von Subjekt und Objekt, Malerei und
Plastik baut die Künstlerin damit ein
weiteres Spannungsfeld auf, das von
Natur und Kunst, bzw. Künstlichkeit.
Alles in ihrer Installation ist künstlich,
arrangiert und stilisiert, und erzählt
doch vom Leben. Raschkes Werk
funktioniert in überzeugender Weise
als Metapher. Je näher man es anschaut,
desto ferner blickt es zurück,
wie es bei Karl Kraus so schön heißt.
Der Aufbruch der künstlichen Pflanzen,
die durch das sie einengende Gefängnis
aus Glas brechen, um wie die
zwei getrennten Königskinder zueinander
zu kommen, erzählt nicht nur
von ihnen, sondern ebenso von uns.
Dieser Aus- und Aufbruch wird zum
Gleichnis für jeden und alle, die sich
von was auch immer befreien wollen.
Ans Licht! Nach Moskau! Wie die
drei Schwestern. Wohin auch immer!
Und wenn es brenzlig wird, hilft
Friedrich Hölderlin mit der tröstlichen
Einsicht: Denn wo Gefahr ist,
wächst das Rettende auch.
Ina Raschke erzählt nicht nur in ihren
Installationen in wundervoll leichter
und angestrengter Weise von uns,
auch in ihren Zeichnungen. Wenn sie
in ihnen Pflanzen, Gräser und Halme
mit farbigen Stiften zu Papier bringt,
erinnern sie in ihrer zarten Fragilität
auch an das verletzliche, menschliche
Leben. Das ist noch stärker der Fall,
wenn sie diese Motive mit Knochenund
Skelettansichten verbindet. Der
Sammeltitel „Forum“ (2011), unter
dem sie diese Bilder vereint, macht
deutlich, das hier etwas zur Schau gestellt
wird, das, obwohl klein und
intim in der Darstellung, von höchster,
quasi öffentlicher Bedeutung ist.
Auffällig ist der konzentrierte, schlakkenlose
Strich ihrer Zeichnungen. Sie
sind von essentieller Prägnanz, wie es
auch das ästhetische Ideal klasssicher
japanischer Kunst ist. Raschkes Bilder
künden von einer zen-buddhistischen
Versenkung in das Wesen der Dinge.
Sie hat ein positives Wissen von der
Leere. Es zu erlangen gehört zu den
erstaunlichsten Übungen des menschlichen
Geistes. Man betrachtet dabei
einen Gegenstand so lange, bis man
ihn auch bei geschlossenen Augen in
aller Klarheit vor sich sieht. Dann entkleidet
man ihn all seiner Attribute,
bis nichts mehr von ihm da ist. Bis
man die Leere sieht. Sie wirklich sieht.
Dann setzt man ihn im Geiste wieder
zusammen, zerstört ihn wieder, setzt
ihn wieder zusammen usw.
Am Ende erlangt man einen Begriff
von der Leere, die nicht der negative
Begriff des Nichts ist, sondern im Gegenteil
der positive Begriff einer Fülle.
Zwar ist er mit dem Nichts identisch
und doch zugleich sein Gegenteil. Es
handelt sich hier um ein Absolutes
und Essentielles der Dinge. Dem versuchen
die klassisch arbeitenden, japanischen
Künstler bis heute Gestalt zu
geben. Auch wenn sie die Haut der
Dinge malen, scheinen sie dahinter zu
schauen und ihre vis motrix sichtbar
zu machen. Von einem ähnlichen élan
vital sind auch die Zeichnungen von
Ina Raschke beseelt.
Michael Stoeber
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Ina Raschke
geboren 1982 in Bremen,
lebt und arbeitet in Bremen