Salon Salder


VISUELLES TAGEBUCH

Für den Künstler ist die Betrachtung und Erforschung des eigenen Ichs eine mögliche Quelle, um sich zu Werken anregen zu lassen. Was ist, phänomenologisch und psychologisch, dem Menschen näher als die eigene Person? Zudem ist es für jeden eine lebenslange Aufgabe, sich selbst auf die Spur zu kommen und zu verstehen. Im Werk von Ingo Rabe spielt daher die eigene Person keine kleine Rolle. In der Serie der schwarzweißen Fotomontagen „Modalverben“ (2003) inszeniert er sich in Dokumentaraufnahmen, die das Verladezentrum der Deutschen Post in Braunschweig zeigen, bei der sein Vater als Architekt gearbeitet hat. Wenn Rabe wie Supermann über die Bahngleise fliegt, lässig über Förderbänder springt und elegant auf einer Förderschnecke tanzt, wenn er wie ein Turner an Verstrebungen einer Lagerhalle schwingt oder als schwarzer Rabe auf einem hohen Kran hockt, scheint das Werk in mehrfacher Hinsicht symbolisch zu sein. Zum einen wirkt es wie eine leichthändige, etwas ironische Emanzipationsarbeit vom Vater und seiner Arbeitswelt, zum anderen bringt es aber auch eine existenzielle Sehnsucht zum Ausdruck, der Schwerkraft der Verhältnisse zu entfliehen und den menschlichen Bedingungen, für die beispielhaft die Modalverben stehen, im Luftraum der Freiheit eine Nase zu drehen.

Auch in seiner neueren Werkserie „Kompost“ (2007) spielt Ingo Rabe wieder eine, wenn auch viel weniger direkte, Rolle. In ihr ist er, nicht weniger als seine Freundin und Lebensgefährtin, die Künstlerin Christine Schulz, ausschließlich metonymisch vorhanden. Sie treten nicht sichtbar, sondern durch ihren Konsum ins Bild. Die Aufnahmen zeigen Kompostteller, auf denen sich die organischen Abfälle von Lebensmitteln versammeln, welche die beiden Künstler über einen Zeitraum von hundert Tagen zu sich genommen haben. Auf einem Teller sehen wir helle Eierschalen und dunklen Kaffeesatz. Dazwischen die Hälfte einer ausgepressten Zitrone und unterschiedliche Salatblätter.

Ein anderer Teller versammelt Porreeabfall, Tomatenreste und Zwiebelschalen, weitere Salatblätter und Apfelsinenschalen. Auf einem weiteren Teller bilden die Reste von Rosenkohl, über die sich dekorativ ein weißes Chicoreeblatt legt, ein reizvolles Arrangement. Ebenso malerisch ist der Teller mit den rosafarbenen Schalen der Litschifrüchte und den vereinzelten Orangenschalen darunter. Man hat den Eindruck, als wolle der Fotograf mit den Resten seiner Essenzubereitungen malen.

Damit begeben sich die Aufnahmen des Künstlers in die Nähe einer immer stärker in Mode kommenden Food Photography. Doch obwohl Ingo Rabes Bilder durchaus komponiert aussehen, eignet ihnen zugleich immer noch die Anmutung des Zufälligen und Nachlässigen. Dadurch ironisieren sie deutlich den strengen Inszenierungs- und Verführungswillen der Essensfotografie. Nicht weniger scheint Rabe sich über den mit ihr verbundenen Konsumtionskult lustig zu machen, der uns anscheinend alle zu ebenso klassenbewussten wie hedonistischen Feinschmeckern machen will. Bei dem Künstler ist es ja im Gegenteil das Ausgemusterte und Weggeworfene, das als Protagonist in die Rolle des Erhabenen schlüpft. Dennoch belässt er es nicht bei der reinen Ironie. Seine Serie der Kompostteller ist auch eine Art visuelles Tagebuch, das von seinen eigenen Essgewohnheiten erzählt. Sie scheinen durchaus bewusst gewählt in ihren Vorlieben und Abneigungen, und setzen so die berühmte These von Ludwig Feuerbach (1804–1872) ins Bild: „Der Mensch ist, was er isst.“ Insofern reiht sich diese Fotoserie von Ingo Rabe nicht nur in die künstlerischen Werke ein, die einer persönlichen Spurensuche folgen. Sondern sie verdichtet sich darüber hinaus auch zu einem existenziellen Gleichnis, das von Werden und Vergehen erzählt.

Wobei dem Kompost – nicht anders als gelungener Kunst – das Versprechen innewohnt, das aus ihm immer wieder neues Leben entspringt.

Michael Stoeber

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Ingo Rabe
geboren 1970 in Braunschweig,
lebt und arbeitet in Garbolzum und Berlin