Salon Salder


EINE MENSCHLICHE POPULATION

Die Plastiken von Delia Rauls sind aus Keramik. Die Künstlerin hat sie aus gebranntem und glasiertem Ton geschaffen, und damit aus einem Stoff, der zu den ältesten Werkstoffen der Menschheit gehört. Nachdem man ihn entdeckt hatte, wurde der Ton sowohl zur Herstellung von Töpferwaren als auch von Kunstwerken verwandt. Allerdings sah man in den Plastiken, die man damals schuf, keine Kunst im heutigen Sinne, wie ästhetisch auch immer sie auf uns wirken mögen. Die Venusfiguren der Steinzeit zeigten einfach die Idole mutterrechtlicher Gesellschaften. Überhaupt hatten Werke aus Ton lange Zeit eher den Status von Kunstgewerbe als von Kunst. Aber das hat sich spätestens in der Moderne geändert, nicht zuletzt durch die grandiosen Schöpfungen von Picasso (1881– 1973). 1948 ließ sich der Künstler mit Françoise Gilot (*1921) in Vallauris nieder, einem südfranzösischen Dorf mit vielen Töpfereien, wo Picasso unter Anleitung der Töpfer mit Ton und Glasuren experimentierte und den Ort durch seine Werke international berühmt machte. Inzwischen ist auch die Keramik längst in der zeitgenössischen Kunst angekommen und als Werkstoff akzeptiert.

Delia Rauls zeigt im Salon Salder einen Wald aus Kakteen. Jeder Kaktus besteht aus sechs Einzelteilen, die durch ein Stecksystem miteinander verbunden sind. Die Künstlerin hat sie aus schwarzem Ton von Hand geformt und danach zwei Mal gebrannt. Nach dem Schrühbrand hat sie ihre Keramikteile glasiert und bei höherer Temperatur ein weiteres Mal „dicht“ gebrannt, um ihre Oberflächen schließlich wasserundurchlässig zu machen. So können sie problemlos bei jedem Wetter auch im Freien stehen. Rauls Kakteen unterscheiden sich in ihren Farben ganz wesentlich voneinander. Sie sind blau, rot, grün etc. Weniger dagegen verändern sie sich in ihren Formen. Da folgen alle Kakteen einer sich wiederholenden Gestalt, einem gemeinsamen Genotypus. Sie zeigen nur insofern geringe Abweichungen von einander, als jede von ihnen von Hand gemacht wurde. Industrielle Exaktheit war so weder möglich noch erwünscht.

Rauls Kakteen mit einem vertikal aufgerichteten Stamm und den beiden aus seiner oberen Hälfte wachsenden Zweigen, die wie zwei ungleich am selben Körper befindliche Arme anmuten und sich ebenfalls in die Höhe strecken, erinnern an Gewächse, wie man sie nicht selten in amerikanischen Wildwest-Filmen sieht oder in Comics wie „Lucky Luke“. Es könnte sich bei der Spezies um die Pflanze Echinocereus scheeri handeln, die in den mexikanischen Bundesstaaten Sonora, Sinaloa, Chihuahua und Durango beheimatet und verbreitet ist.

Allerdings bildet sie nicht nur aufrechte, sondern häufig auch sich ausspreizende und kriechende Pflanzengruppen aus. Wie auch immer, der Rauls-Kaktus besitzt jedenfalls ein sehr markantes Erscheinungsbild. Sowohl in seiner Größe, er ist zwischen 1,60 m und 1,75 m groß, als auch in seiner hoch aufgerichteten Form gemahnt er in seiner abstrakt stilisierten Form an den homo erectus.

An eine Versammlung von Menschen erinnern die Kakteen in mehr als einer Hinsicht. Metaphorisch gesehen, sind sie in ihrer Farbe Individualisten und in ihrer Form Kollektivwesen. Sie sehnen sich nach Nähe, und zugleich halten sie diese schlecht aus. Nicht von ungefähr vergleicht der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) in einem berühmten Gleichnis die Menschen mit Stachelschweinen, die nur in angemessenem – mittlerem – Abstand bekömmlich miteinander auskommen.

Diese Ambivalenz spiegelt sich vor allem in den wie menschliche Arme anmutenden Zweigen der Kakteen. Sie scheinen zugleich zu winken und nach dem Anderen zu rufen wie ihn abzuwehren und auf Distanz zu halten. Sie öffnen und verschließen sich gleichermaßen. Sie sehnen sich nach Nähe und Gesellschaft, ja nach Liebe, und zugleich fürchten sie all das. Delia Rauls Versammlung der Kakteen erinnert an eine menschliche Population, wie sie menschlicher kaum sein könnte.

Michael Stoeber

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Delia Rauls
geboren 1963 in Celle,
lebt und arbeitet in Braunschweig