Salon Salder


Der aufmerksame Flaneur
Zum Werk von Oliver Godow

Von dem Fotografen Henri Cartier-Bresson (1908 – 2004) weiß man, dass er wie ein Jäger durch die Straßen der Großstadt wanderte. In den zahlreichen Filmen, die es über ihn gibt, kann man ihn sehen, wie er die Fotokamera wie eine Waffe vor sein Auge hält. Ihr Objektiv zielt auf das Objekt seiner Begierde. Dabei murmelt er: „Non, non, non, oui, non!“ Die Litanei seiner Neins und seines Jas macht deutlich, dass es für die Aufnahme eines in seinem Bedeutungsreichtum über die bloße Abbildung der Wirklichkeit hinausweisenden Fotos einen „moment décisif“, einen entscheidenden Augenblick, gibt. So nannte Cartier Bresson, der für das Ergreifen dieses Augenblicks wie mit einem sechsten Sinn begabt schien, diesen fruchtbaren Moment der Fotografie. Diesen Bruchteil einer Sekunde, der über Erfolg und Misserfolg einer Aufnahme entscheidet. Darüber, ob das fotografierte Bild Flügel bekommt und zu fliegen beginnt. Ob es also fähig ist, in seinen Konturen, Formen und Farben ästhetischen und semantischen Mehrwert zu entwickeln.

Auch Oliver Godow wandert auf der Suche nach dem über sich hinausweisenden, bedeutungshaltigen Bild häufig durch die Straßen der Städte. Aber er ist kein Jäger. Er ist ein Flaneur. Seine Sinne sind kaum weniger gespannt als die des großen französischen Fotografen, aber auf eine sehr viel stärker rezeptive Art. Er ist nicht auf der Suche, sondern in Erwartung. Er lässt sich überraschen durch das, was kommt. Sein Blick ist wie der eines staunenden Kindes, das die Augen aufschlägt und Welt und Wirklichkeit zum ersten Mal bewusst wahrnimmt. Sie jeden Tag neu und ungenutzt und als ein vollkommenes Wunder erlebt. Wo andere nur die Banalität eines anstrengenden Alltags erkennen, sieht Godow ein Land voller Seltsamkeiten und Schönheiten. Wo andere, eingesperrt wie der Rilkesche Panther in den Käfig einer verbrauchten Wahrnehmung, keine Welt, sondern nur noch Gitter und Beschränkung erfahren, entdeckt Godow mit der Kamera immer weitere Wunder. Seine Bilder beruhen auf dem gelingenden Zusammenspiel von Form und Farbe. Seine Sichtweise befreit die Dinge zu neuem Sein und neuem Sinn. Dabei erscheinen sie in einem völlig ungewohnten Licht. Vor allem wenn sie überraschende Allianzen miteinander eingehen, in denen sie zusammen entschieden mehr sind als allein.

So sehen einige seiner Bilder aus den Jahren 2011 und 2012 aus: An Hannovers Aegidientor spannt sich ein rotweißes Plastikband diagonal über eine helle Betonwand, die oben und unten von dunkelgrünem Glas eingefasst ist. Die Komposition ist eine Preciouse aus kontrastierenden und miteinander harmonierenden Stoffen. Das Helle und Dunkle, das Feste und Fragile verbinden sich darin zu geglückter Einheit. In Rotterdam sind es blaue und gelbe, bedruckte und unbedruckte, zerrissene und intakte Papiere, die sich wie in einem zärtlichen Menuett miteinander vereinen. In Berlin kleben rote und grüne Plastikstreifen auf einem Milchglasfenster, in dem sich ein gegenüberliegendes Haus spiegelt. Als sei das Gegenständliche ein Schattenreich, weicht es hinter dem abstrakten Ornament der Streifen zurück. Wunderbar und ebenfalls in Berlin gefunden – ist Godows Bild der Verknüpfung zweier blitzender Stahlstäbe mit dem sie einwickelnden, halb aufgerissenen Schaumstoff. Die strengen und verspielten Formen der Aufnahme sowie der helldunkle Akkord ihrer Farben sind überwältigend. Nicht weniger als das Farb- und Formenspiel aus unterschiedlichen Plastikstreifen auf einer Tür im Pariser Flughafen Charles de Gaulle oder der halb geöffnete, sich an einen grünen Pfahl anlehnende, zerbeulte Regenschirm aus hellem Plastikstoff mit orangefarbenem Rand, den Godow ebenfalls in Paris gefunden hat.

In Wilhelmshaven fällt ihm der Kontrast zwischen einer kaputten und kompletten Plastikscheibe ins Auge, in Berlin ist es ein Graffito, dessen Aufschrei „Fucked in Berlin“ jemand mit zierlichen blauen Linien eingefasst hat. Und in Köln ein Ensemble von Tischen, welche die Bildränder der Aufnahme anschneiden und verfremden, sodass ihr Motiv aussieht wie eine künstlerische Plastik. Was immer Oliver Godow uns in seinen Bildern zeigt, es sind Readymades der Wirklichkeit. Keine digitalen Inszenierungen oder Simulationen, die er am Computer entwickelt hat, wie merkwürdig und seltsam, wie komplex und irreal seine Sujets oft auch erscheinen mögen. Die Ästhetik seiner Aufnahmen ist eine des Blicks. Sie liegt weniger in den Gegenständen seiner Fotografien als vielmehr in der Art, sie zu sehen und ins Bild zu setzen. Darin liegt auch eine humane Botschaft. Kommt nicht immer alles darauf an, wie wir auf die Welt schauen?

Michael Stoeber

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Oliver Godow
geboren 1968 in Lübeck
lebt und arbeitet in Berlin, Stuttgart und Oldenburg