Salon Salder


Memoriale der Erinnerung
Zum Werk von Mei-Shiu Winde-Liu

Die Künstlerin Mei-Shiu Winde-Liu arbeitet mit Keramik, Glas und Porzellan. Alle drei gehören zu den ältesten bekannten Werkstoffen der Menschheit. Was aus ihnen entsteht, ist durch seine Materie und die Art seiner Herstellung mit den vier Elementen verbunden, aus denen sich nach Verständnis der alten Griechen die Welt zusammensetzt. Aus Erde und Wasser, um die Werke zu formen und zu gestalten, und aus Feuer und Luft, um sie zu trocknen und zu brennen. Artefakte aus Keramik, Glas und Porzellan bezeugen vor der Existenz jeden Kunstbegriffs den ästhetischen Gestaltungswillen der Menschen. Mit dem Porzellan ist Winde-Liu darüber hinaus durch ihre Herkunft in besonderer Weise verbunden. In China wurde das Porzellan erfunden. Es war Marco Polo (ca.1245 – 1324), der in seinem Reisebericht „Il Milione“ als erster den Menschen in Europa Gegenstände aus weißem, edlem Material beschrieb, welche die Chinesen als Tafelgeschirr benutzten.

Heute haben die Stoffe, die am Anfang ihrer Geschichte der Gestaltung nützlicher Gegenstände vorbehalten waren, längst den Weg in die Kunst gefunden. Dass sie dort aber nicht allein „interesseloses Wohlgefallen“ erregen wollen, wie Immanuel Kant (1724 – 1804) den Charakter der Schönheit beschrieb, machen die Plastiken von Winde-Liu deutlich. Sie ruhen nicht nur „selig in sich selbst“ (Eduard Möricke, 1804 - 1875), sondern ihre Faktur bewegt neben dem Herzen auch den Verstand des Betrachters. Das auf ihn die Intention der Künstlerin zielt, demonstrieren die eher prosaischen als poetischen Titel ihrer Werke. „49 Tage (Archiv der Erinnerung II)“ heißt eine Versammlung frei aneinander gelehnter Porzellanblätter, die sich vor den Augen des Betrachters in der Horizontale erstrecken. Diese im monochromen Weiß strahlenden Porzellanblätter sind einander ebenso ähnlich wie unterschiedlich. Ihre Konstruktion ist höchst fragil und verletzlich. Und zugleich sehr symbolisch.

Zu dem konzeptuellen Werk hat Mei-Shiu Winde-Liu eine alte chinesische Vorstellung angeregt. Dichter aus ihrem Kulturkreis beschreiben Gedanken manchmal als Blätter. Wenn der Wind in welke Blätter fährt, wirbeln sie herum und formieren sich zu immer neuen Konstellationen und Bildern. Ähnlich mag es uns mit unseren Gedanken gehen, die oft auch die tollsten Tänze in unserem Kopf aufführen. Die Möglichkeit immer neuer Formen und Wendungen ist nicht nur Zeugnis einer labilen Verfassung, sondern auch Ausdruck unserer Freiheit. Nicht von ungefähr hat Francis Picabia (1879 – 1953) einmal sehr schön und schlüssig gesagt: „Der Kopf ist rund, damit er beim Denken die Richtung ändern kann.“ Wie der aufrührerische Befund des Künstlers bringt auch Winde-Lius beeindruckendes Werk Form und Substanz zusammen. Ein Sprachbild wird in ihm zur Plastik. Und mehr noch: Zugleich ist das Werk auch ein Memorial des Charakters unserer Erinnerung. Auch sie ist in Bewegung - und nicht ein für allemal fixiert. Mit den Jahren ändern sich unsere Sichtweisen. Manches vergessen wir, anderes wird weniger wichtig oder erscheint uns in einem neuen Licht. Prioritäten verschieben sich und mit ihnen Bewertungen. Das ist nicht nur ein biografisches und persönliches Problem, sondern auch eines des kollektiven Erinnerns. In dem Maße, wie sich unsere Werte verändern, verändert sich auch der Blick auf unsere Geschichte und auf das, was wir von ihr in Erinnerung behalten wollen.

Wie sehr der Künstlerin an der Thematisierung von Erinnerung gelegen ist, verdeutlicht die Tatsache, dass auch ein weiteres Werk von ihr in Salder einen entsprechenden Titel trägt. „Archiv der Erinnerung VI“ zeigt vierzehn längliche Glasblöcke aus eisigem Blau, die Module der Minimal Art ins Gedächtnis rufen. Nur sind Winde-Lius Erinnerungsblöcke anders als deren Konstruktionen erzählend und theatralisch. Die Künstlerin hat die gläsernen Quader in eine Art See gesetzt, als handele es sich bei ihnen um Eisblöcke, die langsam abtauen. Damit hat sie einmal mehr ein eindringliches Bild für das Funktionieren unserer Erinnerung geschaffen. Wenn Licht auf das spiegelnde Glas und Wasser trifft, scheinen sich die fest gefügten Blöcke in ein funkelndes und glitzerndes Vexierspiel von Myriaden von Eindrücken aufzulösen. Das ist von ebenso sinnverwirrender wie gefährlicher Schönheit. Denn am Ende braucht unsere Erinnerung feste Koordinaten. Sie muss verlässlich sein, um unsere Geschichte und Identität zu begründen. Dass wir um sie ebenso kämpfen müssen wie um unsere Erinnerung, das eben lehren in eindringlicher Weise die plastischen Werke von Mei-Shiu Winde-Liu.

Michael Stoeber

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Mei Shiu Winde-Liu
geboren 1959 in Tainan, Taiwan R.O.C.
lebt und arbeitet in Bremen und Ganderkesee